Adenauer trifft Generation Y
60 Jahre Bundesrepublik

Eva Steinrücke

Geboren: München 1926
Wohnort: Köln
portraitiert am 20.10.2009



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Wie sehen Sie Ihr Leben? Was ist Ihre größte Sorge/Angst, was ist Ihr größter Wunsch?
Mein Leben im Moment ist erfüllt. Es ist so viel los, es ist so viel, was mich bewegt. So viel, was mich interessiert, so viel wo ich mitmischen und mitmachen kann. Es ist so viel da, wo ausschließlich die Beeinträchtigungen des Alters ein bisschen eingrenzen. Aber insgesamt empfinde ich den Reichtum des Alters.
Meine Sorge naturgemäß von meinem Alter her, wie geht es mit meinem Ende? Was läuft da ab? Werde ich ein Pflegefall? Oder kann ich in Würde sterben? Mich ins Bett legen und einfach aufhören? Oder werde ich abhängig von irgendwelchen Institutionen?
Das bewegt mich tief als Sorge.
Ich bemühe mich, mir keine Sorgen zu machen. Ich bemühe mich aber auch, Vorsorge zu treffen.
Ich habe alles schriftlich niedergelegt und auch angesprochen in meinem Umfeld.
Ich hoffe, dass ich es mir gut gestalten kann. Ich möchte schön sterben.



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Was könnten Politiker für Sie bewirken/beitragen/tun?
Das ist eine Frage, auf die ich mich sehr schwer tue, eine Antwort drauf zu geben. Weil ich unter den Politikern so wenig starke profilierte Persönlichkeiten sehe, wenn Sie fragen, was könnten sie für mich tun. Die sind ja selber hilflos, selber dem ausgeliefert, was die ganze Welt mit sich bringt. Wenn man die ganze Verbindung Politik und Finanzen betrachtet, da hätte ich keine Vorstellung, was die für mich tun könnten.
Ich kann Wünsche äußern! Mein Wunsch wäre, wenn die Politiker es schaffen, miteinander friedlich umzugehen rund um die Welt, dass sie das Friedliche an uns weiterleiten. Das wäre ein großer Wunsch von mir. Aber die kloppen sich ja überall.
Also ich hab da erhebliche Zweifel, was Politiker da für mich tun könnten.



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Warum wählen Sie? Warum wählen Sie nicht?
Ich wähle, weil ich das Gefühl habe, dass es wichtig ist. Selbst wenn die Demokratie doch wacklig ist und wahrscheinlich nicht das Optimale ist, was wir in der Politik haben können. Aber sie ist ein akzeptables Instrument und da gehört das Wählen dazu. Wenn ich nicht wähle, dann wählen andere für mich und das will ich nicht. Also ich wähle. Es ist zwar immer ein Kompromiss, aber ich weiß meine Richtung und ich hoffe, dass es was bringt.



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Was hoffen Sie für die Zukunft? Ihre persönliche Zukunft und die Zukunft Deutschlands, ggf. der Welt?
Für meine persönliche Zukunft hoffe ich, dass es mir weiter gut geht. Im Moment geht es mir trotz einiger Beeinträchtigungen sehr gut. Ich hoffe, dass mir mein Freundeskreis erhalten bleibt, dass ich mein Talent weiter leben kann, dass ich alles, was ich an innerem Reichtum habe, weiterreichen kann, damit das irgendwo landet. Das hoffe ich für die Zukunft. Und dass es vielleicht noch einige Jahre dauert.
Ganz wichtig ist für die Zukunft Deutschlands, dass es die Integration hinkriegt. Denn das kann sehr befruchtend sein, wenn man das positiv umsetzt. Ich selber bin auch aus zwei verschiedenen Nationalitäten. Meine Mutter ist Schwedin und ich habe eine indische Schwiegertochter und einen jugoslawischen Schwiegersohn. Also Integration, das ist es, was ich mir für die Zukunft Deutschlands erhoffe. Offenheit.



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Wie sieht Ihre Utopie für eine lebbare Gesellschaft aus?
Auf einen einfachen Nenner gebracht hoffe ich, dass die Welt spiritueller wird. Dass sie begreift, dass wir alle eine Einheit sind, eine Spezies sind. Ob das die Menschen untereinander sind, ob das die Verbundenheit mit der Natur ist. Wir sehen ja, was wir mit der Natur anstellen, dass die Natur sich wehrt. Das ist mein Wunsch, dass die Welt kapiert, dass wir alle zusammengehören. Dass wir alle was dafür tun können, dass es uns gut geht. Wir haben das technische Know-how. Wenn man schaut, was alles möglich ist: Wir können die Welt zum Paradies machen. Das ist mein Wunsch. Bei den Ressourcen, die wir haben, braucht keiner Not zu leiden.

Der Ausgangspunkt wäre eine Art Gemeinschaft, kleine Gemeinschaften, die sich zusammentun, weil sie ähnliche Interessen haben. So etwas wie eine größere Familie und dann mehrere größere Familien, die dann wiederum das gemeinsame Interesse haben, dass es uns gut geht und das umgesetzt in weltumspannende Dimensionen. Inwieweit man das als Ordnung installieren kann, weiß ich nicht. Da sind wahrscheinlich Experimente, die heute schon laufen und wahrscheinlich schon in diese Richtung gehen. Ich wünsche mir, dass dieser Geist oder diese Idee sich vielleicht weiterentwickelt und die Welt erträglicher macht.



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Welche Rolle spielt Politik in Ihrem Leben? Engagieren Sie sich in irgendeiner Form politisch?
Ich lese zumindest aufmerksam die Zeitung und schaue, was so läuft, wobei ich meistens erschreckt bin. Ich habe keinen Fernseher, schaue mir keine vorgefertigten Sachen an. Ich hole mir aus der Zeitung, das was mich interessiert. Ich kann nicht sagen, dass Politik in meinem Alltag eine Rolle spielt. Denn was kann ich eigentlich tun? Das, was ich umsetze in meinem Alltag, in meinem Wirken hier, ist eine kleine Zelle zu bilden, wo gute Energie herrscht. Und das ist sozusagen mein sozial-politisches Engagement. Ob ich ein Theaterstück einlade oder in meiner eigenen Gruppe etwas tue. Wenn man ein langes Leben hinter sich hat und gesehen hat, was da immer alles gelaufen ist, komme ich zu den Ergebnis: Ich kann hier in meinem Umfeld hier in meiner Familie in meiner Gruppe etwas tun, jedenfalls, da ist meine Politik.



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Wie lautet Ihr Wahlspruch?
Ich habe vor Kurzem einen Spruch von Tolstoi entdeckt und der sagt: „Der Sinn des Lebens ist Liebe zu vermehren.“ Da habe ich gedacht: „Das ist meins.“



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Was bedeutet es für Sie in Deutschland zu leben? Ist Deutschland Heimat für Sie?
Deutschland ist meine Heimat. Deutschland ist so ein Schmelztiegel, auch von der Geschichte her. Ich bin immer fasziniert, wenn ich mit bekomme, was hier so gelaufen ist. Stichwort: Varusschlacht. Immer wieder Zusammenschlüsse und auseinander. Deutschland liegt ja so zentral. Alle Flüsse kommen von überall her, die sich hier vermischt haben. Also ich finde Deutschland hochinteressant.
Ich liebe es, ich finde die Landschaft so schön. Eigentlich muss man gar nicht woanders hin gehen, wenn das Wetter ein bisschen besser wäre. Also wenn hier die Sonne scheint, dann ist es traumhaft.
Ich entdecke auch immer wieder Ecken, wo ich denke „Oh, ist das schön.“
Ich liebe Deutschland.
Ja, Deutschland ist Heimat für mich. Ich bin zwar sehr kosmopolitisch orientiert und behaupte auch: Die eigentliche Heimat hat man bei sich drin. Aber ich habe hier heimatliche Gefühle. Ich habe ja hier mein ganzes Leben verbracht. Ich habe jetzt auch hier in Widdersdorf so viel Vertrautes so viele Freunde. Da wo die Leute sind, da wo die Erinnerungen sind, da wo man gelebt hat, da ist Heimat.



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Wie und wo haben Sie das Kriegsende am 8.Mai 1945 erlebt?
Das war in Oberstaufen, wo wir evakuiert waren, von Berlin aus. Dort haben wir auf zwei kleinen Zimmern gelebt und da kamen die Panzer von der französischen Armee den Berg hochgekrochen.
Und wir guckten hinter den Vorhängen hervor und spürten die Vibration am Boden von den Panzern, die so mit ihren Geschützen absicherten, wo sie womöglich jemanden abschießen können. Also, das sitzt mir heute noch im Gespür, was das für ein Gefühl war. Wie diese Macht da ankam und das Terrain eingenommen hat. Das ist das Existenzielle vom Kriegsende.



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Was hat die Währungsreform 1948 für Sie bedeutet?
Also an die Währungsreform erinnere ich mich eigentlich nur, dass mein Schwiegervater so verwegen war, von diesem ersten Geld ein großes Seebild zu kaufen,. Wunderbar, nur Wellen, ein ganz wunderbares Bild, in das man so hineinfallen kann. Und das ist dann bei uns im Wohnzimmer gelandet, als wir angefangen haben, unseren Haushalt aufzubauen. Das ist für mich das entscheidende Erlebnis von der Währungsreform, diese Verrücktheit von dem Schwiegervater.



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Wie haben Sie 1949 die Gründung der Bundesrepublik Deutschland erlebt?
In diesem Zusammenhang, ich erinnere mich nämlich an gar nichts. Ich erinnere mich weder an ein Wahllokal, weder daran, dass ich mir Gedanken gemacht habe, was ich zu wählen hätte oder so. Ich erinnere mich an gar nichts. Das war in der Zeit, wo wir noch in Oberstaufen waren, wo wir evakuiert waren. Mein Vater fing gerade an, uns ein neues Zuhause in Frankfurt zu schaffen. Und dass ich ein uneheliches Kind hatte und mich zu orientieren versuchte, was ich beruflich machen kann. Also ich erinnere mich an die Gründung der Bundesrepublik Deutschland nicht, nur an das, was mich persönlich bewegt hat.



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Was für Hoffnungen hatten Sie damals bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland?
Mir ist nur eingefallen, dass ich zu der Zeit wohl das Buch von Richard Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi über Paneuropa gelesen habe und davon sehr angetan war. Und ich danach dann meinen Ex-Mann kennengelernt habe. Und der war sehr engagiert mit dem Jungen Europa. Er war der Herausgeber der Zeitschrift „Junges Europa“ und das hat sogar unsere Hochzeit beeinflusst. Denn am nächsten Tag, wo wir eigentlich hätten Flitterwochen haben können, da saßen schon die ganzen Leute vom Jungen Europa um uns herum und haben diskutiert, sich zusammengetan, mit der Zeitschrift, wie es weiter geht mit Europa. Ich saß da - ich hatte damals Steno und Schreibmaschine gelernt - und führte Protokoll. Das war mein Tag nach unserer Trauung in Maria Lach. Das ist das Wesentliche, was bei mir politisch angekommen ist. Und der Schreibtisch, den ich heute in meinem Gastzimmer stehen hab, der stammt aus dem Büro vom Jungen Europa.



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Was waren aus Ihrer Sicht 1949 die wichtigsten Themen für Sie persönlich und für die Menschen mit denen Sie zu tun hatten? In welcher Form haben Sie sich damit beschäftigt?
Wie eben schon gesagt, das Wichtigste, war für mich in dem Moment: Schauen, wie geht es für mich weiter, mit Beruf, zusammen mit dem Kind leben. Meine Eltern haben mich nicht verstoßen, sondern ich konnte bei ihnen bleiben. Was mich bei anderen bewegte, war die Zusammenführung von Familien. Das war ja auch bei uns so. Und das hat ja weitreichende Auswirkungen gehabt, die ganzen Flüchtlinge, die Ausgebombten, die wieder nach Hause wollten, das war Oberthema in der Zeit.

Also ich bin damals von Oberstaufen nach München gefahren und hab geguckt, ob ich da Fuß fassen kann an der Uni, um Krankengymnastik zu lernen. Ursprünglich wollte ich ja mal Säuglingsschwester werden, weil ich mir gedacht hatte, da könnte ich mal ins Ausland fahren, bei anderen Familien Auslandserfahrungen machen und gleichzeitig Kinder versorgen. Aber das war ja mit dem Kind nicht mehr möglich. Da mein Vater für uns gerade ein Zuhause in Frankfurt geschaffen hatte, habe ich dann in Frankfurt geschaut, was aus mir wird. Und da habe ich dann die Idee meines Vaters aufgegriffen, ich sollte die rechte Hand eines Architekten werden. Mein Vater war auch Innenarchitekt. Und dann habe ich Steno, Schreibmaschine, Freihandzeichnen, Schriftschreiben gelernt, um dann im Architekturbüro alles mitmachen zu können und es mitzutragen. Das habe ich dann auch getan.



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Was waren aus Ihrer Sicht nach 1949 die wichtigsten Themen für Sie persönlich und für die Menschen mit denen Sie zu tun hatten? In welcher Form haben Sie sich damit beschäftigt?
Also in der Zeit direkt danach hat Politik für mich keine Rolle gespielt. Dann starb mein Vater schon 1952,. Das hat alles umgekrempelt. Dann habe ich meinen Mann kennengelernt und da fing das dann mit dem Jungen Europa an. Das war natürlich ein Engagement und ich war begeistert von dieser Idee und bin es heute noch und freue mich, dass es zwar sehr lange gedauert hat, aber es wird, das Europa. Das ist mir nach wie vor ein wichtiges Thema. Es scheint mir auch wichtig für die ganze Welt zu sein, diese Art von Zusammenschlüssen.

Später, sehr viel später, als ich nach Köln kam – 1967 -, da habe ich mich dann politisch engagiert. Da gab es einen unabhängigen Frauenarbeitskreis. Da habe ich mitgemacht und den später auch geleitet. Wir haben alles Mögliche unter die Leute gebracht. Wir waren verrufen als die roten Frauen von Junkersdorf, obwohl es nur ein paar SPD-Frauen waren und ein paar FDP-Frauen. Und ich bin dann, um das andere Ambivalent einzubringen, in die CDU gegangen. Habe aber sehr schnell die Nase voll gehabt. Also, das war Engagement, mich mit Politik zu befassen und Politik auch unter die Leute zu bringen.

Der Europagedanke hat wahrscheinlich bei mir so gut Fuß gefasst, weil ich ja schon international groß geworden bin. Meine Mutter ist ja Schwedin. Damit war schon eine Öffnung da zu anderen Ländern. In meinem Elternhaus gab es Russen zu Besuch, da gab es ganz verschiedene Leute: Künstler, Handwerker. Also, es war immer bunt und offen. Deswegen war das Europa für mich so eine zündende Idee, dass alle zusammengehören und auch zusammenpassen. Das ist auch heute noch meine Idee, dass wir Menschen alle zusammengehören. Und wir haben alle dieselben Sorgen und alle dieselben Nöte. Wir brauchen uns nur darüber klar werden, dass jeder Hunger hat, dass jeder ein warmes Zuhause möchte, dass jeder seinen Frieden mit sich und den anderen möchte. Wenn wir das immer im Auge haben, dann könnte es, wie sich Europa entwickelt, wenn auch langsam, vielleicht über die ganze Welt ausbreiten. Das ist so eine Idee, die dahinter steckt und das hat damals bei mir gezündet.




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